Abendspaziergang
"Das Land, das wir durchzogen haben, um es
auszukundschaften, das Land ist sehr, sehr gut."
4 Mose 14, 7.
Der Abend ist lau.
Es zieht mich nach draußen.
Ich ziehe mir unauffällige Klamotten an, schnappe mir das
Fernglas und wandere los.
Richtung Wald.
Keine hundert Meter von meinem Haus entfernt, fällt mir inmitten des hohen Grases ein roter
Fleck auf. Ein Blick durch den Feldstecher offenbart, dass es sich um einen
jungen Rehbock handelt, der bunte Leckerli von der Wiese nascht. Die vier Enden
seines Gehörns sind ordentlich verfegt und leuchten spitz und weiß. Er hat auch
schon völlig verfärbt. Das graue Winterfell ist dem glatten roten Sommerfell gewichen.
Neugierig stiert er mich zwischen den Grashalmen hindurch an.
Ich lasse ihn in Ruhe und wandere weiter.
Ein knallgrünes Gerstenfeld leuchtet in der Sonne. Die
zahllosen roten Mohnblüten schweben wie Edelsteine über den Borstenfächern.
Durch den Feldstecher betrachtet wirken sie surreal in ihrer Schönheit.
Auf einer Wiese nahe am Wald steht ein grauer Fleck im bunten
Frühlingsgras. Mit zehnfacher Vergrößerung betrachtet, erkenne ich darin eine
struppige alte Geiß, die noch nicht verfärbt hat. (Junge Tiere verfärben zwar vor
den alten, für die alten ist es aber auch Zeit). Eigentlich hat das Tier
obendrein Rosenstöcke, scheint mir, die nur Böcke haben. Doch zum Bock fehlen ihm
die Hörner. Zwar werfen Rehe ihr Gehörn im Winter genauso ab wie Hirsche. Um
diese Zeit sind beiden Arten jedoch längst neue Hörner gewachsen. Hingehen und
genauer nachschauen kann ich natürlich nicht. Ich zuckte mit den Schultern und
wandere weiter.
Der Wald ist dunkel und geheimnisvoll. Einen besonderen Reiz
gibt ihm um diese Jahreszeit dass viele Grün, das auf seinem Boden wuchert. Es
ist dicht wie ein Rasen. Denkt man sich die Hälfte der Bäume weg, könnte man
meinen, man wäre in einem Park unterwegs. Jeden Moment müsste ein Disney-Prinz
mit seiner Prinzessin angeritten kommen. Man erwartet ständig, dass eine kleine
dicke gute Fee bienengleich hinter einem Baum hervorsummt und einen glücklich anstrahlt.
Ich freue mich am Frühlingswald, laufe eine Schleife und
komme dann dorthin zurück, wo ich in den Wald hineingelaufen bin.
Ich halte inne.
Im hohen Gras rechts vor mir steht diesmal kein Reh, sondern
ein Jäger wendet mir den Rücken zu. Er kann mich nicht hören, denn auf den
Ohren trägt er, wie ein kettensägender Waldarbeiter, einen orangefarbenen
Gehörschutz. Er legt den Vorderschaft seines Gewehrs in die Gabel seines
Pirschstocks und zielt. Ich versuche herauszufinden, was er anvisiert, doch ich
sehe nichts. Er scheinbar auch nicht, denn er scannt die ganze Wiese durch sein
Zielfernrohr.
Ich könnte auf ihn zutreten, ihm auf die Schulter tippen und
ihm sagen, dass hier nur eine schlecht verfärbte alte Ricke unterwegs ist, und
die hat bis September Schonzeit. Aber warum ihm den Spaß verderben? Manche
Dinge muss man einfach selber herausfinden und der Abend ist noch jung. Eine zeitlang schaue ich dem jungen Mann beim Pirschen zu, dann mache ich einen
Umweg und gehe nach Hause.
Wenn wir still dasitzen und ein besonders schöner
Schmetterling landet auf unserer Hand, dann freuen wir uns, bewegen uns nicht
und studieren das farbenfrohe Tier, bis es von selber wieder davonflattert.
Würden wir eine Raupe auf unserer Hand entdecken, würden wir
angeekelt die Hand schütteln und das furchtbare Vieh in hohem Bogen davonschleudern.
Wir vergessen dabei, dass ein Schmetterling früher einmal
eine Raupe war.
Ähnlich verfahren wir mit Menschen vor und nach der
Auferstehung. Vor manchen unreformierten Leuten suchen wir das Weite, wie vor
einer Raupe. Nach der Auferstehung werden diese selben schwierigen Menschen
eine Veränderung durchlebt haben, die sie zu bildschönen Schmetterlingen macht,
von denen wir gar nicht genug bekommen können.
Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir hin und wieder auf
ausbaufähige Zeitgenossen treffen.
Wer weiß, vielleicht sind wir für manche Raupen, obwohl wir
uns doch für Schmetterlinge halten.
"Es wird gesät in Unehre, es wird auferweckt in
Herrlichkeit; es wird gesät in Schwachheit, es wird auferweckt in Kraft." (1
Korinther 15, 43).
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