Gelenkte Meinungsfreiheit

„Auch in deinen Gedanken fluche nicht dem König und in deinen Schlafzimmern fluche nicht über den Reichen! Denn die Vögel des Himmels könnten die Stimme entführen und was Flügel hat, das Wort anzeigen.“
Prediger 10, 20.

Die Meinungsfreiheit hat traditionell keinen leichten Stand in Deutschland.
Natürlich darf man denken was man will—so lange es mit der gewünschten Meinung übereinstimmt. Für—bzw. gegen—andere gibt es solche Allroundwaffen wie die Verurteilung wegen Volksverhetzung. Die letzte deutsche Diktatur ging erst vor rund 26 Jahren zugrunde, und ganz überwunden ist sie, scheint mir, noch immer nicht.

Ehrlich entsetzt war ich dieser Tage, als sich auf der Titelseite (!) einer lokalen Werbezeitung einen Artikel mit der Schlagzeile „Knüppelt sie raus“ las.
Um was ging's?
Ein Rentner hatte von einem Schweinfurter Gericht allen ernstes eine siebenmonatige Bewährungsstrafe wegen Volksverhetzung aufgebrummt bekommen.
Plus 60 Sozialstunden.
Das ist ziemlich heftig.
Was hatte dieser Strolch getan, der einen atemberaubenden Wirkungskreis haben musste, dass man ihn so hart bestrafte?
Ein Rentner.
Hatte er zum Umsturz der Regierung aufgerufen? Hat er die Bauern angestachelt, zu den Mistgabeln zu greifen? Hat er seine Schützenbruderschaft dazu aufgewiegelt, das Kanzleramt zu besetzen, Geiseln zu nehmen, Tote in Kauf zu nehmen? Wollte er eine neue politische Ordnung? War er in irgendeiner Form eine Bedrohung für die Bundesrepublik? Hat er den Holocaust geleugnet? Kam jemand durch ihn zu Schaden?
Nichts dergleichen.
Er hatte auf einer obskuren Facebook-Seite zwei törichte Kommentare abgelassen.
Zwei.
Törichte Kommentare.
Er hat sich darüber aufgeregt, dass das Strafverfahren gegen einen Afghanen, der in Offenbach sechs Kinder unsittlich berührt haben soll, eingestellt wurde. Er schrieb: „Jagt sie aus unserem Land. Die haben hier nichts zu suchen, dieser Abschaum.“
Die Polizei hat's gelesen.
Der Staatsanwalt ordnete Ermittlungen an.
Und jetzt ist der Mann vorbestraft und leistet Sozialstunden.
Wegen eines dumpfen Spruchs auf Stammtischniveau, wie sie täglich millionenfach abgesondert werden. Und wegen eines zweiten, der auch nicht schlimmer klingt. Wegen zweier törichter, belangloser Posts, die keinen Menschen interessieren.
Außer der Polizei.
Furchtbar.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Polizisten, die sich über so etwas her machen, ernsthafte und wohlmeinende Personen sind. Dies trifft ganz sicher auch auf Staatsanwalt und Richter zu. Doch hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.
Der unbescholtene Mann hat sich entschuldigt, die monierten Posts sofort gelöscht, sich einsichtig gezeigt, hat eine gute Sozialprognose. Doch es half alles nichts. Ihn traf die erbarmungslose Härte des Staates mit voller Wucht.
Die sechs Kinder in Offenbach hingegen haben sich vermutlich nur eingebildet, der Afghane hätte sie unsittlich berührt. Oder er wurde verleumdet. Denn sonst hätte der dortige Staatsanwalt das Verfahren ja nicht eingestellt.
Die Verurteilung des Rentners und die Berichterstattung darüber auf Seite 1 macht eines überdeutlich: Du sollst von Asylanten nicht schlecht denken. Wenn du es doch tust und wir hören davon, verknacken wir dich zu sieben Monaten auf Bewährung. Plus 60 Sozialstunden.
Behalte deine Meinung unbedingt für dich. Wenn nicht, bringen wir Paragrafen gegen dich in Stellung, die eigentlich einflussreichen politischen Bedrohern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gelten.
Wir sind nervös. Wir halten dich für eine Gefahr.
Das Urteil ist so rein antifaschistisch-völkerverständigend und sozial gerecht, dass der Justizminister sicherlich seine große Freude daran hat. Der mag Facebook ja nicht besonders und hat ins Gespräch gebracht, diese renitenten US-Firmen mit 50 Millionen € pro unerwünschtem Post zu bestrafen, wenn sie die nicht löschen. (FAZ, 14.3.2017).
Wie weit sind wir noch von einem Ministerium für Wahrheit entfernt? Merkt niemand, dass hier was schiefläuft?

Nicht einmal die Volksaufklärung kam bei unserem Rentner und seiner Verurteilung zu kurz. Denn eine Schulklasse nahm an der Verhandlung teil und lernte so, was man darf und was nicht. Das war sicher alles sehr lehrreich.
Der Schuss könnte jedoch nach hinten losgehen.
Es könnte diesen Kindern dämmern: Hier wird jemand verurteilt, der sich auf Facebook darüber aufgeregt hat, dass Kinder (angeblich) bedrängt wurden.
Ich bin ein Kind.
Hier wird alter Mann verurteilt, dem mein Wohlergehen am Herzen liegt.
Woran liegt diesem Richter?
Woran liegt dieser Gesellschaft, in deren Namen er Recht spricht?
Bin ich denen wichtig?
Oder sind denen andere wichtiger?
Wenn ich 18 bin, wähle ich eine Partei, die verspricht, mich zu schützen.
So könnte es kommen.

Ich plädiere für Entspannung an der Facebook-Front.
Die Posts, die dort stehen, sind Momentaufnahmen, erst recht die dumpfbackigen und blöden. (Ich bin auf Facebook nicht, bzw. seltenst, unterwegs).
Amerikaner und Engländer, die schon seit Jahrhunderten in freien Gesellschaften leben und in Kommentarspalten eine freche Schnauze pflegen, denken gar nicht daran, einander den Mund zu verbieten. Manche Schlagzeilen dort sind "schlimmer" als die Sprüche dieses unglücklichen Rentners. Man kann auf den Webseiten beliebiger amerikanischer Mainstream-Publikationen wie etwa der New York Times, Wall Street Journal, Washington Post, usw. furchtbar törichte Kommentare lesen. Die dämmern dort vor sich hin und stören keinen Menschen.
Die binden keine Polizei und keinen Staatsanwalt.
Falls jemand in Posts beleidigt wird, steht ihm frei zu klagen.
Doch ein bestimmtes Meinungsklima zu forcieren, ist einer freien Gesellschaft nicht würdig.
Meine Meinung.

„Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, das heißt vor der Heuchelei.“ (Lukas 12, 1).

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