Der sterbende SS-Mann

Simon Wiesenthal, österreichischer Jude und unter den Nazis verfolgt, schreibt in "Die Sonnenblume" von einem unvergeßlichen Ereignis während seiner KZ-Zeit.

Ein 23-jähriger SS-Offizier lag krankheitsbedingt sterbend im Lazarett des Konzentrationslagers. Als der Tod ihm ins Gesicht starrte, wurde er von Angst gepeinigt und ließ deswegen einen Juden holen.
Es traf Wiesenthal.
Während der also auf einem Stuhl neben dem Bett des Sterbenden saß, beichtete der SS-Mann seine Greuelverbrechen.
In Dnjepropetrowsk hatte die SS eine große Menge Juden in einem dreistöckigen Haus zusammengetrieben. Sie zwangen Männer, Benzinkanister bis ganz nach oben zu tragen. Dann wurde die Haustür verrammelt und auf der anderen Straßenseite ein MG aufgebaut.
Die Eingeschlossenen, unter ihnen Alte, Frauen und Kinder begannen zu klagen. Alle wußten, was kommen würde.
Dann flogen Handgranaten durch die Fenster und irgendwann stand das Haus in Flammen.
Der junge SS-ler erinnerte sich mit größten Gewissensschmerzen an eine junge Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder, die in ihrer Not aus dem zweiten Stock sprangen. Ihre Kleider brannten bereits und der Vater hielt dem jüngsten Kind vor dem Sprung die Augen zu.
Über dem Asphalt knatterte das Maschinengewehr, niemand überlebte.

Der SS-Mann konnte aufgrund solcher Schindereien nicht in Frieden sterben und wollte um seines Gewissens willen mit einem Juden darüber reden. Zum Schluß bat der Sterbende den Juden Simon Wiesenthal um Vergebung.
In Erwartung einer Absolution, wie er sie wohl aus der Kirche kannte, faltete der Offizier die Hände.
Doch Wiesenthal saß noch einen Augenblick da. Dann stand er auf und ging--ohne ein Wort. Ohne vergeben zu haben.

Hätte Wiesenthal diesem SS-Mann vergeben müssen?

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